Der Meermann
Erscheinung des thailändischen Originals: Oktober 2013
Übersetzung aus dem Thailändischen: Burkhard Risse
Erstentwurf: 12.02.2018 / Zweitentwurf: 18.02.2018
Ich habe ihn nur einmal ganz kurz wiedergesehen, als ich auf die Mittelschule ging. Überrascht saß ich dem alten Tamot schon recht lange gegenüber. Ich hatte gehofft, er würde mich schneller erkennen, doch er reagierte nicht. Ich gab ihm noch weitere Signale, in der Hoffnung, er würde mich dann erkennen. Erst saß er nur still da und musterte mich von oben bis unten, dann lächelte er schüchtern und dann, endlich lachte er los.
Ich erinnere mich noch an seine breiten Schwimmerschultern. Er war zwar nicht sehr groß, doch seine Muskulatur war sehr ansehnlich und wohl proportioniert. Die Haut war braungebrannt und glänzte, als wäre sie ständig eingeölt. Er hatte ein außergewöhnliches Gesicht – die Ohrmuscheln waren mit dem Ohransatz verwachsen. Schaute man nur flüchtig hin, sah es so aus, als hätte er gar keine Ohrmuscheln.
Als Kind hatte ich wirklich geglaubt, der alte Tamot sei gar kein Mensch, denn er schätzte die Gesellschaft von Menschen überhaupt nicht. Die Kinder hatten alle Angst vor ihm. Ich eigentlich auch – da aber der Garten hinter unserem Haus an seine Hütte grenzte und meine Freunde etwas über den unheimlichen Alten erfahren wollten, versprachen sie mir Süßigkeiten. So wurde ich Teil ihrer Verschwörung und bekam die Aufgabe, alles auszukundschaften.
An jenem Tag regnete es stark, also schnitt ich ein Bananenblatt als Regenschutz vom Baum. Mit dem Bananenblatt in der einen Hand und Jambolanapflaumen in der anderen Hand streifte ich am Zaun entlang. Ich schlich auf das Grundstück des alten Tamot, suchte mir einen guten Spähposten bei den Galgantsträuchern, aß die Pflaumen und hielt Ausschau. Das Rauschen des strömenden Regens im Bananenwald verband sich mit dem Prasseln der Tropfen auf der Erde zu einer einschläfernden Melodie. Da tauchte der alte Tamot ganz plötzlich aus den Galgantsträuchern auf. Ich erschrak fürchterlich und sprang aus meinem Versteck hervor, um davonzulaufen. Er hielt mich aber fest und hing mir ein paar Bananenblattbündel an einem Band über die Schulter. Dann rannte ich in Panik davon. Zu Hause angekommen sah ich erst, dass in den Bananenblättern frischer Fischlaich eingewickelt war. Am Abend machte meine Mutter uns köstlichen gedämpften Fischlaich mit Currypaste im Bananenblatt und dazu gab es ganze Chilischoten.
Das war der Tag, an dem die Freundschaft zwischen mir und dem alten Tamot begann. Aber meinen Freunden habe ich dieses gute Ende nie erzählt. Stattdessen habe ich es geheimgehalten und wilde Geschichten erzählt, so wie Kinder es eben machen... Ich erfand Geschichten, in denen der alte Tamot noch unheimlicher und gruseliger erschien, allein deshalb, weil ich nicht wollte, dass sich jemand in mein Abenteuer einmischte.
Die fantastische Welt des „alten Tamot von Gonpao“ drehte sich um den Unterwasserabgrund Gonpao, der für seine unermessliche Tiefe und Kälte berüchtigt war. Man glaubte, er reiche bis in die dunkle und mystische Unterwelt. Dieser Abgrund verschlang unzählige Male das Leben von Abenteurern. Der Gonpao war einer von mehreren Abgründen in der breiten Wasserstraße, die sich um die vielen Uferwindungen, Landzungen und Halbinseln herumschlängelte. Einige Arme krochen tief ins Land hinein und wurden zu reichen Fischgründen. Es heißt, in einigen dieser stillen Wasser lägen große Höhlen verborgen, in denen der Schutzgeist der Krokodile lebe, der schon vielen nachts erschienen sei. All diese verbotenen Orte gingen früher oder später in Schauergeschichten ein, die ihre Wirkung auf die Dorfbewohner nicht verfehlten. Daher näherte sich niemand diesen Orten ohne Grund. Doch diese verbotenen Orte hatte der alte Tamot alle besucht – und war wohlbehalten zurückgekehrt. In seiner Kindheit war die Wasserstraße ein geheimnisvoller Ort, der die Fantasie beflügelte, aber auch die fortschrittsferne Lebensweise der Dorfbewohner widerspiegelte. Einige Geschichten lagen unermesslich tief am Grund der dunkelgrünen Wasserstraße verborgen.
Außer den Gruselgeschichten von der Wasserstraße gab es noch einige über den alten Tamot, den Schrecken aller Kinder. Damals kursierten in unserem Freundeskreis immer wieder neue Gerüchte über den Alten, der gar kein Mensch sei und sich nur im Wasser wohl fühle. Sogar mitten in der Nacht habe man ihn noch völlig sorglos herumschwimmen sehen. Der alte Tamot habe als einziger Mensch im Dorf die Fähigkeit, unter Wasser zu atmen. Bei Bedarf könne er auch die Fische durch einen Zauberspruch herbeirufen. Er sei sehr sonderbar und schätze keine menschliche Gesellschaft. So gingen die Gerüchte. Ich war froh darüber, es besser zu wissen als die anderen Kinder mit ihrer Angst und gleichzeitigen Neugier. Alle wollten mehr über den Alten wissen, doch kein einziger hatte den Mut, meinem Rollenspiel als Geheimnishüter auf den Grund zu gehen. So konnte ich alle Verhandlungsmacht an mich reißen. Meine Freunde hielten mich für einen Helden, als sie erfuhren, wie nahe ich dem alten Tamot gekommen war. Daher beschloss ich, die Geschichte darüber, dass er mich an jede Flussbiegung mitnahm, für mich zu behalten.
Viele Geschichten beruhten auf ganz logischen Verhaltensweisen des Alten, entfernten sich dann aber immer mehr von der Wahrheit. Einige Geschichten entsprachen auch der Wahrheit, so etwa, dass der alte Tamot ein sehr talentierter Langzeittaucher war und sich sehr schnell unter Wasser bewegen konnte. Wenn er untergetaucht war, konnte man nie sicher sein, ob er vielleicht irgendwo außer Sichtweite wieder auftauchen würde. Und noch eine andere Geschichte über eine höchst ungewöhnliche Fähigkeit des Alten, nämlich dass er Fische mit bloßen Händen fangen konnte. Einmal habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Er ruderte das Boot zu der tiefen Stelle. Dort war das Wasser still und friedlich, da es durch einen Felsvorsprung vom Wind geschützt war. Dann wurde ich Zeuge eines Wunders: Der Alte schlug mit der Handfläche ganz leicht und regelmäßig auf die Wasseroberfläche. Erst drehte er sich noch unschlüssig hin und her, doch dann tauchte er für einen Moment unter und mit einem riesigen Karpfen in der Hand wieder auf – er hatte eine Hampala-Barbe gefangen. Die schrecklich flinke Beute zappelte wild beim Versuch, aus den starken Fingern ihres Jägers in die Freiheit zu entkommen. Er warf den vom Schicksal gestraften Fisch nach oben ins Boot. Der alte Tamot machte noch zwei weitere Tauchgänge und jedes Mal zog er einen Fisch aus dem Wasser. Als wir zu Hause ankamen, band er zwei Fische mit Bambusringen durch die Kiemen zusammen und gab sie mir. Er wollte nur einen behalten. Damals verbrachte der Alte die meiste Zeit mit Tauchen und Schwimmen. Er schien sehr glücklich zu sein. Es faszinierte mich, dass er genauso elegant durch das Wasser gleiten konnte wie seine Fische.
Bei meinen Freunden prahlte ich mit meinem Wissen: Der Grund dafür, dass der alte Tamot mit niemandem rede, seien drei Verpflichtungen, die er streng einhalten müsse: Erstens dürfe er Fische nur für sich selbst fangen, zweitens dürfe er nur mit Fischen und Wassertieren reden und drittens müsse er die Wasserstraße mit allen Mitteln verteidigen. Dafür erlange er die Fähigkeit, die Fische nach Belieben herbeizurufen. Alle meine Freunde machten große Augen, stellten sich im Kreis eng um mich herum und lauschten mucksmäuschenstill. Ihr gespanntes Zuhören befeuerte meine Lust, die Geschichte noch glaubhafter zu erzählen. So brauchte ich niemandem zu verraten, dass er ganz einfach stumm war.
Der alte Tamot war mit seiner Wasserstraße innig verbunden. Wenn er im Wasser schwamm, schien er in eine andere Welt eingetaucht zu sein. Es war eine schöne, friedliche und losgelöste Welt, eine besondere Welt, die nur ihm allein gehörte. Die Unterwasserwelt bot unzähligen kleinen Wassertieren eine Heimat, egal ob mit Haut oder Schuppen – es herrschte noch große Artenvielfalt. An einem schlechten Tag waren die Fische, die anbissen oder ins Netz gingen, nur Grundeln, dann musste man sich eine andere Stelle suchen. Doch inzwischen werden Grundeln als Delikatesse in Restaurants angeboten und erzielen einen hohen Preis. Wenn die Netze mit den weiten Maschen aus dem Wasser heraufgezogen wurden, waren so viele Fische verschiedener Arten darin, dass man es bald leid war, alle herauszuholen. Wenn man einen Haken an einem Schwimmer mit einem Grasbüschel als Köder auswarf, konnte man mit großer Wahrscheinlichkeit sowohl im flachen als auch im tiefen Wasser einen Fisch fangen. Vom Boot des alten Tamot konnte ich oft beobachten, wie er immer wieder mit bloßen Händen Fische fing und ihm dabei nie langweilig wurde.
So vergingen die Jahre, bis ich auf die Mittelschule kam. Ich entfernte mich immer weiter von dem Alten und seinem Lebensstil, denn nun konnte ich ihn längere Zeit nicht sehen. Viele Jahre später schloss ich die Mittelschule ab und begann mein Universitätsstudium. Ich war so vertieft in das Studium, dass meine Erinnerungen an den alten Tamot völlig verschüttet schienen. Als ich auch das Studium beendet hatte, zog ich wegen der Arbeit mit meiner Familie nach Bangkok. Da waren schon alle meine Erinnerungen an den alten Tamot vom Strom der Zeit fortgespült.
Ich weiß nicht, warum ich zurückkommen und diesen Ort noch einmal besuchen musste. Es war so, als ob die Wasserstraße in meinem tiefsten Innern nach mir gerufen hätte. Langsam erinnerte ich mich wieder an jenen seltsamen Traum, den ich eines Nachts hatte. Ich war an der breiten, gewundenen Wasserstraße. Es war eine helle Vollmondnacht. Das Reich der Nacht bestand aus vielen kleinen und großen Schatten sowohl an Land als auch in den Flussbiegungen. Ich erinnerte mich noch vage daran, dass mir im Traum ein Schatten erschien, der im Wasser schwamm und mir sehr bekannt vorkam. Der Schatten winkte mir zu, dann tauchte er unter und verschwand.
Bei meiner nächsten Rückkehr hatte sich das Dorf stark verändert. Damals, als ich mit meiner Familie in die Hauptstadt gezogen war, war das Dorf fast verlassen. Die Bewohner waren genauso wie die Fischschwärme weggezogen, die mit letzter Kraft aufgebrochen waren, um nahrungsreichere Gewässer zu suchen. Dies trug einigermaßen zur Erholung der Bestände und zu neuer Artenvielfalt bei, doch damals wollten wir gar keinen Artenreichtum, sondern Geld.
Als ich mit dem Auto ins Dorf fuhr, schaute ich in die dicht aneinanderstehenden Häuser hinein. Überall sah ich aufgestapelte, fest verschnürte Düngersäcke verschiedenen Inhaltes. Große Rollen engmaschiger blauer Pflanzenschutznetze von der gleichen Art wie Moskitonetze standen neben den Garagen. In der Garage hatte jede Familie einen Kleinlaster oder ein Auto, einen Langheckbootsmotor und ein Motorrad mit Beiwagen. Überall die gleiche Ausstattung. Intuitiv fühlte ich, dass da etwas faul war.
Von Treckern aufgewirbelter Staub schien die ganze Gegend verschluckt zu haben und erzeugte eine ungemütliche und unangenehme Atmosphäre. Dann ging ich kurz in den Lebensmittelladen, dessen Kundenstrom gar nicht abebben wollte. Kaum zu glauben, dass in so einem kleinen Dorf, das noch nicht mal an einer Durchfahrtsstraße lag, so ein Trubel herrschen konnte. Im Laden stellte ich fest, dass das Sortiment fast genauso modern wie in den Geschäften der Bangkoker Vororte war. Dies wies auf die außergewöhnliche Kaufkraft der Dorfbewohner hin. Denn die Inhaberin wählte sicher Waren aus, die den Bedürfnissen der Kunden entsprachen. Ich hatte nicht vor, die Nacht dort zu verbringen. Ich war bloß aus der Kreisstadt heruntergefahren, denn ich hatte noch Zeit bis zu einem wichtigen Geschäftstermin, den ich am nächsten Tag in dieser Provinz hatte. Die Inhaberin war eine ältere Frau. Mit ihrer melodischen Stimme plauderte sie freundlich mit den Kunden. Vielleicht lief der Laden deshalb so gut. Wegen des Hochbetriebs hatte man sogar extra jemanden eingestellt, der den Kunden Eiswürfel aus einem großen blauen Eimer in die Plastikbecher schaufelte. Ich kaufte eine eiskalte Limonade und setzte mich etwas abseits unter einen Holzschirm. Trotz der kalten Jahreszeit war es sehr heiß und schwül. Nachdem die Inhaberin dem Angestellten per Handzeichen Arbeit zugeteilt hatte, kam sie zu mir unter den Sonnenschirm. Da ich ihr fremd war, war sie wohl neugierig geworden.
„Als Kind habe ich hier gelebt. Früher konnte hier jede Familie vom Fischfang leben. Um Essen brauchten wir uns keine Sorgen zu machen“, sagte ich zur Inhaberin. „Doch wegen der Armut mussten wir woanders Arbeit suchen. Was macht ihr denn jetzt alle hier, Oma? Sieht so aus, als würde der Rubel rollen. Euer Leben ist viel leichter geworden.“ Ich beugte mich über meine Flasche, saugte gierig am Strohhalm und schaute durch den in der Nachmittagssonne flimmernden Staub nach draußen.
„Hier ist es nicht mehr wie früher. Ja wirklich, hier sind nur noch Fremde! Sie kommen wie Fische, die ein neues Gewässer aufgespürt haben“, sagte die Inhaberin des Lebensmittelgeschäftes lächelnd. „Alle betreiben jetzt Fischzucht, junger Mann! Dann pflanzen sie noch Zuckerrohr oder Maniok an.“
Schnell wurde mir klar, dass die Familien jetzt alle Fischfarmen betrieben. Das war doch bestimmt ein Projekt eines der riesigen Agrarkonzerne, die die Dorfbewohner im Betrieb unterwiesen und ihnen dann die ganze Last der Aufzucht aufbürdeten und das Risiko zuschoben. Wenn die Fische ihr Alter erreicht hatten, wurden sie von den Konzernen zu selbst bestimmten Preisen abgenommen, wobei noch die Kosten für die Pellets, auf die die Konzerne das Monopol hatten, ebenso wie die Kosten für Antibiotika und Verschiedenes abgezogen wurden. Ich konnte mir schon denken, welche Auswirkungen die Fischfarmen auf die Zukunft des Dorfes haben würden, denn dies war ja nicht das erste Mal, es gab Präzedenzfälle. Ich hätte aber nicht gedacht, dass es einmal in einem so weit abgelegenen Dorf passieren könnte. Während ich so überlegte, fiel mein Blick in den hinteren Teil des Ladens, wo Säcke mit Fischfutter aufgestapelt waren. Außer dem Lebensmittelverkauf hatte dieser Laden also noch Einnahmen aus der Fischzucht.
„Tante, wie viele Gehege haben Sie denn?“ „Zwei. Mit zwanzig Becken. Das lass ich die Kinder machen. Die Buntbarsche hier sind schon fast soweit. Dieses Mal sind schon weniger gestorben. Wenn wir noch mehr Tonnen pro Becken rausholen können, dürften wir großen Gewinn machen! Natürlich müssen wir noch die Kosten für das Futter abziehen.“
Wir unterhielten uns schon eine ganze Weile, da wurde mir bewusst: Ich hatte mich in so viele Interessen vertieft, dass ich die Wasserstraße, in der ich als Kind fast jeden Tag geschwommen war, total vergessen hatte. Ich entschuldigte mich also, verließ den Lebensmittelladen und ging die Straße hinunter. Nicht weit entfernt sah ich den gewundenen Fluss zu meiner Rechten. Die Straße machte einen Bogen um eine Kuhweide herum, die kreuz und quer mit Baumstümpfen übersät war, so wie man es hier überall sehen konnte. Schöne Baumstümpfe wurden von den Dorfbewohnern ausgegraben und verkauft, bis nur noch sehr wenige übrigblieben. Übrig geblieben waren nur die bleichen, schiefen und unschönen Baumstümpfe, deren Anblick die einst schöne Landschaft noch trostloser machte. Noch alarmierender aber war, dass im Fluss viele Reihen von Gehegen waren, die den größten Teil der Wasserfläche einnahmen. Sie sahen wie schlecht heilende Blasen auf der Haut aus. Diese hochorganisierten Aquakulturen müssten ja eigentlich einen immensen Gewinn abwerfen, der sich mit dem traditionellen Fischfang mit Angeln und Netzen überhaupt nicht vergleichen ließ. Immer wieder fuhren mit Fischfuttersäcken beladene Fahrradrikschas durch den Staub zum Pier hinunter. Ich dachte an die unvorstellbaren Mengen Fischfutter, die täglich in den Fluss sanken. Wie hoch mochte die Sedimentschicht sein, die sich schon jetzt am Grund gebildet hatte? Mir wurde eng in der Brust, denn ich sah voraus, dass dem Fluss eine Katastrophe bevorstand. Früher gehörte der Verkauf von selbst gefangenen Fischen zu den typischen Straßenszenen der Gegend um den Pier. Doch nun war die Erinnerung an solche Szenen verblasst. Das Wasser hatte eine andere Farbe und sah fast aus wie eine Kloake. Ich kannte keinen einzigen von den Leuten, die mit vielen großen Pangasius-Haiwelsen und ohne irgendeinen anderen Fang vorbeigingen. Früher gab es nicht so viele Pangasius-Haiwelse dieser Größe. Sie ernährten sich wahrscheinlich von den Futterresten, die aus den Gehegen der Zuchtfische weiter nach unten sanken. Jetzt wurden sie ebenfalls gefangen und verkauft. Wenn hier alles voller Haiwelse war, war das kein gutes Zeichen, denn es war ein sehr resistenter Fisch, der in jeder Umgebung überleben konnte. Das hieß, dass das Gewässer vielleicht schon kurz vor dem Umkippen stand. Ich seufzte und ging an der Weide entlang. Es war Feiertag, doch anders als in der Vergangenheit sah man keine Gruppen von Kindern fröhlich im Wasser spielen.
Ganz in der Nähe stand eine Gruppe von Dorfbewohnern, die sich aufgeregt unterhielten. Ich bekam zwar nicht alles mit, doch es schien keine gewöhnliche Angelegenheit zu sein. Viele zeigten auf die dichten Gehege in der Flussbiegung. Ich schaute in die gewiesene Richtung und sah eine weitere große Gruppe von Menschen, die im Dunst über den Gehegen durcheinanderliefen, als wäre gerade etwas Schlimmes passiert.
„Was ist denn los?“, rief ich schon von Weitem. Jemand antwortete: „Irgendein Irrer hat die Gehege aufgeschnitten und die Fische freigelassen! Wir müssen ihn schnappen. Der dachte wohl, er kommt leicht an was zu essen. Gleich bekommt er eine Abreibung, die er sein Leben nicht vergisst! Das geschieht so einem ganz recht!“ Und ein anderer rief: „Wer kommt alles mit? Ich will mit ein paar Leuten rüberfahren.“
Die Leute wollten mehr wissen und selbst sehen, was passiert war. Sie rasten mit dem Motorboot zu dem Hausboot, von dem aus nachts die Fische bewacht wurden. Dort war ein richtiger Tumult ausgebrochen, die Menschen standen dicht gedrängt im Kreis und schrien wild durcheinander. Einige fluchten und zeigten dabei in die Mitte. Immer mehr Leute kamen hinzu und brachten das Hausboot zum Schwanken. Ich versuchte, mich hindurchzudrängen, um etwas sehen zu können. Ich wollte endlich wissen, was hier vor sich ging.
Ein glatzköpfiger alter Mann saß zusammengekauert in einer Ecke. Sein Körper war mit Blasen übersät, einige davon so groß, dass es einen schauderte. Es wirkte wie eine lange unbehandelte Allergie gegen chemische Stoffe.
„Wer bist du?“, fragte schließlich einer. Die Menge wurde lauter, denn jeder fragte seinen Nachbarn, ob er ihn kenne.
„Tamot!“, rief jemand aus der Menge, „Tamot, der Verrückte!“
Ich erstarrte bei diesem Namen. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich schaute mir die zitternde Gestalt genau an und konnte klar erkennen, dass die Ohrmuschel mit dem Ohransatz verwachsen war. Es war tatsächlich der alte Tamot.
„Warum hast du unsere Fische freigelassen? Na sag schon, du blöder...“ Ein wütender Koloss von Mann schlug mehrmals heftig mit einem Ruder auf den verängstigten und verwirrten Alten ein.
„Übergeben wir ihn der Polizei.“
„Erst treten wir ihn, bis er Blut spuckt!“, schrien einige.
Es hagelte die schlimmsten Flüche. Die meisten wollten sich auf ihn stürzen und den Feind lynchen, der so viel Leid über sie gebracht hatte. Mein Herz schlug wie wild, doch ich zwang mich, Ruhe zu bewahren. Bevor ich noch weiter überlegen konnte, stand der alte Tamot plötzlich mit zitternden Knien auf, als ob er sich ergeben wolle.
„Uaaaah...!“ Der markerschütternde Schrei des alten Tamot hallte durch die ganze Flussbiegung. Er verzerrte sein Gesicht wie beim letzten Atemzug und machte dem hämmernden Schmerz in seiner Brust Luft, bevor er blitzschnell durch die verdutzten Dorfbewohner hindurchschlüpfte und ins Wasser sprang.
Die Jagd nach dem alten Tamot dauerte fast eine Stunde. Alle schwärmten aus, um ihn irgendwo in der Flussbiegung aufzuspüren. Einige auf den Booten trugen Gewehre und Harpunen, viele hielten Schlagstöcke in der Hand. Das Dröhnen der vielen patrouillierenden Motorboote wollte kein Ende nehmen. Doch schon kurz darauf hörte man wieder panische Schreie. Viele Fischgehege in der Nähe waren ebenfalls aufgeschnitten worden. Als bekannt wurde, wem die Gehege gehörten, verloren einige Betroffene die Fassung und brachen weinend zusammen. Die Verfolgung des alten Tamot wurde mit großem Aufwand fortgesetzt. Wenn ihn jetzt jemand erwischt hätte, wäre ihm der Tod sicher gewesen. Ich fuhr mit den nicht betroffenen Leuten zum Ufer zurück. Ich ließ mir noch die Telefonnummer des Lebensmittelladens geben, dann verließ ich mit meinem Wagen schleunigst das Dorf. Ich fühlte mich wie gehetzt. Ich war der einzige, der das Geheimnis des alten Tamot kannte und war mir sicher: Da es ihm gelungen war unterzutauchen, würde ihn kein Mensch finden.
Drei Tage später rief ich beim Lebensmittelladen des Dorfes an. Genau wie ich vorhergesagt hatte, war der alte Tamot nicht gefunden worden. Zwei ganze Tage lang hatte man jeden Winkel der Flussbiegung mit Suchtrupps durchkämmt und dann resigniert die Aktion abgebrochen.
Die Inhaberin schluchzte am Telefon, weil all ihre Fische aus den zerstörten Gehegen entwischt waren. Außerdem erfuhr ich, ihr Lieferant habe gerade angekündigt, den Preis für das Fischfutter schon wieder, fast auf das Doppelte, zu erhöhen. Pro Schadensfall würden die Firmen wahrscheinlich 100.000 Baht der vorbehaltlosen Garantie von den Züchtern einbehalten. Ich vermochte nicht zu sagen, ob der alte Tamot die fremden Eindringlinge, die den Fluss ruinierten, vertreiben wollte. Ich konnte nur im Selbstgespräch murmeln: „Sagenhaft, welche Kräfte ihm die Natur verliehen hat!“
Erstveröffentlichung: Kurzgeschichtensammlung von Gewinnern des Subha-Devakul-Preises. Bangkok: Nanmee Books, Oktober 2013.